Crowdwheeling
Neulich waren wir auf einem Konzert der Kassierer in Dortmund. Neben einer absolut politisch korrekten Punkrockshow der alten Herren aus Wattenscheid, gab es aber auch nennenswerte Geschehnisse vor der Bühne.
Das FZW in Dortmund ist eigentlich super für uns als Rollstuhlfahrer. Es ist ebenerdig, barrierefrei und hat sogar nen Rolliklo. Dann sind da noch diese super durchdachten “Stellplätze” für Rollstuhlfahrer. Eigentlich auch nicht schlecht, denn bei größeren Konzerten mit viel Andrang, hat man es ja doch oft schwer seinen Platz zu verteidigen und muss mehr darauf achten, nicht als Trittstufe missbraucht zu werden, als darauf dass man sein Bier nicht verschüttet. Beides ist bei Punkrockkonzerten nicht ungewöhnlich, denn es kocht ja ein Kessel aus purem Adrenalin, gepaart mit Alkohol und Anarchismus. Für uns ein Mix, in dem wir uns ganz wohl fühlen, auch wenn Lisa weder trinkt noch raucht. Rauchen tu ich übrigens auch nicht, aber das nur am Rande. Zurück zu den Stellplätzen, die ja dafür sorgen sollen, dass man eben nicht in diesen gefährlichen Kessel Gefahr läuft unterzugehen und Ellbogen abzubekommen oder mit seinem harten Alurahmen für andere zur Gefahr zu werden. Doch was ist mit der Sicht auf die Bühne? Die ist zu oft denkbar schlecht, denn dort waren sie gaaaaaanz rechts vorn, neben der Bühne. Wäre dort nun wenigstens eine Tribüne aufgebaut, sodass man über die Köpfe der anderen Besucher hinweg sehen könnte, dann könnte man sich vielleicht noch damit anfreunden, dass man nur die Hälfte der Bühne sehen kann aus diesem Blickwinkel. Aber wir wollen doch auch eigentlich mittendrin sein und alles sehen, fühlen und auch mal was abbekommen. Sonst könnten wir ja gleich zum Musikantenstadl gehen oder etwa nicht? Wer zu einem Punkrockkonzert geht, weiß doch, dass Ellbogen wirbeln, Bier fliegt und fließt und auch der ein oder andere Schubser nicht ausbleibt. Die Konzertveranstalter wollen das scheinbar unterbinden, wir wollen es aber herausfordern.
Kaum ertönt also der erste Ton, geht es Radumdrehung für Radumdrehung in Richtung Mitte, bis wir einen Platz haben, wo man was sehen kann und sich einrocken kann. Diesen Drang bekommen einige drum herum mit und wollen helfen den Weg frei zu machen. Da kommt aus dem Sicherheitsgraben ein Mann auf uns zu uns sagte sowas wie: “…die sind anders als die anderen… die können da nicht hin…” Wir waren schockiert und wiesen ihn zurück. Bei genauer Beobachtung, wusste er eh nicht von Punk und schon gar keinen Schimmer hatte er offenbar von dem was auf solchen Konzerten abgeht. Sein Gesicht zeigte die ganze Zeit über, wie schockiert er über die Texte und das Treiben dort war. Wir aber bahnten uns weiter unseren Weg. Ich fand den Platz gut, er reichte um das Konzert in vollen Zügen zu genießen. Ich sang, nein ich schrie die vulgären Texte der Kassierer mit und rockte ab. Als sich das Konzert dem Ende neigte, konnte ich aber nicht mehr einfach nur dort vorne stehen bleiben, es zog mich in den Kessel, ich wollte mittendrin sein.
Also bahnte ich mir meinen Weg durch die pogenden Massen und als ich mittendrin war, schubste ich, wurde geschubst und fühlte mich dabei wunderbar. Ich rockte, drehte und wheeliete mich durch die Songs, dann kam jemand auf mich zu und fragte mich, ob ich surfen wolle. Ich sagte: “Klar, aber hol lieber noch ein paar Leute ran.” Der Rest ging schnell. Er winkte ein paar Leute ran, ich zog meine Bremsen an und schwupp war ich aufrecht über dem Kessel, ich kochte über, der Kessel kochte über. Während ich da oben über die Hände surfte, rockte ich weiter, riss meine Hände nach oben. Es ist einfach ein tolles Gefühl, ein Gefühl von Freiheit und das Gefühl, dass bestätigt hier genau richtig zu sein unter diesen Leuten, die dich in die Mitte drängen, schubsen und dich auf Händen tragen, wie sie es mit jedem anderen hier genauso tun.
Irgendwann endet jeder Crowdsurfer im Sicherheitsgraben. Die Securities sind sowas wie die natürlichen Feinde eines jeden Crowdsurfers und Stagedivers. Ich versuchte mich zu wehren, wurde dann aber doch in den Graben hinab gelassen. In meiner Bierlaune und dem Adrenalinrausch des Surfens, versuchte ich mich von den Sicherheitspersonal zu entreißen und mehrfach die Bühne zu erklimmen, leider erfolglos. Übertrieben? Für den ein oder anderen von euch vielleicht, aber wenn man Punk lebt, dann wird man das verstehen. Alles was ich wollte, war eine Rückwärtsrolle auf der Bühne und das Gefühl von Freiheit zurückholen, dass mir die Securities gerade genommen haben.
Ok, ich bin also nicht auf die Bühne gekommen, konnte mich dem Sicherheitsperonal nicht entreißen. Aber gewinnen lassen? Niemals! Statt mich wieder an der Seite in die Menge zu lassen, wie es eigentlich üblich ist, sollte ich nun die letzten Songs im Graben verweilen mit einem noch schlechteren Blickwinkel. Also griff ich in die Trickkiste, hob mich etwas aus dem Rollstuhl um meinen Hintern zu entlasten. Der Security dachte aber sicherlich, dass ich schon wieder abhauen will und griff mir an die Schulter. Dies nutzte ich aus und lies mich fallen, ganz gekonnt nach hinten. Er dachte natürlich ich sei umgefallen und während er noch nicht wusste was er tun sollte, rief ich “Du kannst mich doch nicht einfach umschubsen!” Es kam weiteres Personal und auch Sanitäter dazu, während er sich wehrte: “Ich hab ihn nicht geschubst, wirklich nicht.”, kletterte ich wieder in meinen Rollstuhl und sagte: “Dann lass mich doch einfach wieder zurück und halte mich hier nicht fest.” Das machte er dann auch nach kurzer Rücksprache via Funk und ich konnte zumindest den letzten Song und die Zugabe wieder mit den anderen feiern.
Übertrieben? Gemein? Find ich nicht, denn was wäre, wenn man einfach von Anfang an selbst entscheiden könnte wo man steht und die Rollstuhlplätze einfach optional wären. Was wäre, wenn man einfach einen Rollstuhlfahrer wie jeden anderen behandelt, egal ob er nun tanzen, pogen oder surfen will. Dann hätten die mich runter geholt, eine kurze Verwarnung und zurück in die Menge. Verdammt, das ist Punkrock und keine Kaffe und Kuchen Veranstaltung.
Ich appelliere an das FZW und an alle anderen, die Konzerte veranstalten, denkt nach. Teilhabe heißt nicht nur am Rand dabei sein, Teilhabe heißt mittendrin zu sein, selbst entscheiden zu können, wie man dieses gesellschaftliche Zusammentreffen genießen möchte. Wenn ihr Rollstuhlplätze habt, ist das durchaus lobenswert, sind diese aber in der Ecke, wo man nix sehen kann, ist das für’n Arsch!
Vielen Dank fürs Lesen /David
PS: Vielen Dank an die Jungs und Mädels, die uns diesen Abend mit ihren Tickets rein genommen haben und später noch mit uns angestoßen haben. Vielen Dank an die, die mich schweren Brocken über die Köpfe getragen haben und vielen Dank an alle, die Punk noch leben und nicht zu einem weinerlichen Schunkelabend verkommen lassen. Vielen Dank auch an die Kassier, dass ihr nach so vielen Jahren immer noch nicht “erwachsener” geworden seid. Stay rebel, stay true!
PPS: leider habe ich keine Bilder oder Videos von diesem Abend. Wer also was hat oder was findet, von mir crowdsurfend oder pogend, wäre toll wenn ihr mir das schicken könntet. Danke 🙂